Zusammenfassung
Nicht allein technologische Innovationen wandeln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einschneidender Weise sozioökonomische und soziale Strukturen: Revolutionen (1830, 1848) wirken als Beschleunigungsfaktoren längerfristiger Umsetzungsprozesse, in deren Perspektive sich der Siegeszug der industriell-technologischen (und agrarökonomischen) Revolution vollendet und sich letztlich dann der politische Liberalismus mit seinem Kampf um Gleichberechtigung und Rechtsgleichheit in einer noch zu schaffenden Staatsbürger*innengesellschaft zum Wirtschaftsliberalismus verwandelt. Im Mit- und Gegeneinander liberaler, demokratischer, republikanischer, frühsozialistischer und konservativer Positionen verändern sich die Spielregeln politischer Theorie und Praxis. Auch literarästhetisch befindet sich die Zeit in Bewegung mit dem Zusammenbruch des goethezeitlichen ästhetischen Normengefüges, der einer Vielzahl ästhetischer Suchbewegungen Platz macht, bis sich das Literatursystem um 1850 im Realismus allmählich wieder restabilisiert (vgl. Frank 1998). Mit teils harten Bandagen geführte Positionierungs- und Definitionskämpfe zwischen einzelnen Autor*innen und auch zwischen Autor*innengruppen und Institutionen um Meinungsführer*innenschaft und Aufmerksamkeit im sich entwickelnden Literaturmarkt begleiten diesen Prozess. Als Bedingung der Werkwerdung bilden sie im Sinne Bourdieus die nicht zu vernachlässigende diskursive ‚Umgebung‘ (Bourdieu 2016, 13) der Romane und Erzählungen, mit denen der Schweizer Pfarrer Albert Bitzius unter seinem nom de plume Jeremias Gotthelf nach der Veröffentlichung seines Bauern-Spiegels (1837) für einige Jahre zu einem der populärsten Autoren im deutschen Sprachraum wird.
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Literatur
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Eke, N.O. (2025). Epochenzugehörigkeit und Werkentwicklung. In: Reiling, J., von Zimmermann, C., von Zimmermann, K. (eds) Gotthelf-Handbuch. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-70416-5_89
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