Der Reformpädagogin Helen Parkhurst zum 30. Todestage:
Der Daltonplan – a way of life?
Peter Thiel
Haben Sie den Frontalunterricht auch manchmal satt? Dann schlagen Sie nach bei Helen Parkhurst, der amerikanischen Reformpädagogin und schauen Sie, wie sie die Langeweile aus dem Klassenzimmer verbannt hat.
So einfach nach Rezept geht’s damit freilich nicht. Schließlich handelt es sich bei Parkhursts „Daltonplan“ um ein anspruchsvolles reformpädagogisches Unterfangen und nicht etwa um eine schlichte Handlungsanleitung für mehr Entertainement im Klassenzimmer.
Helen Parkhurst starb vor 30 Jahren und das ist vordergründig der Anlass für diese Zeilen. Sie gilt, wie gesagt, als Begründerin des Daltonplans (genau Dalton Laboratory Plan), einer Bildungskonzeption, in deren Mittelpunkt das selbständige Lernen steht. Einen „Way of life“ nennt sie ihren „Plan“ und nicht etwa nur eine andere Unterrichtsmethode.
Das Konzept in Grobkontur
Die lexikalische Fachliteratur 1) beschreibt den Daltonplan etwa so: Der Grundgedanke beruht auf dem sog. Kontrakt, durch welchen das Kind an die Schule gebunden wird. Er ermöglicht, in einem System der Freiheit zu arbeiten und überträgt dem Kinde die Verantwortung für sein Lernen. Der Lehrplan für jedes Fach und jede Unterrichtsstufe ist in mehrere Kontrakte unterteilt, das sind kleinere überschaubare Stoff-Portionen. Daraus ergeben sich die sog. Assignments, zu deutsch Anweisungen. Jedes Assignment ist unterteilt in vier Arbeitsabschnitte, die den wöchentlichen Lernstoff umfassen.
Der Lehrer unterrichtet nicht mehr im herkömmlichen Sinne. Der Klassenraum hat den Charakter eines Laboratoriums und ist jeweils ausschließlich für ein bestimmtes Unterrichtsfach eingerichtet. Dort hält sich die fachspezialisierte Lehrkraft bereit, den Kindern beim Lernen helfend unter die Arme zu greifen.
Zu Beginn des Schuljahres erhält das Kind für jedes individualisierte Unterrichtsfach (nicht auf alle Fächer trifft dies zu, Religion, Singen und Sport werden kollektiv unterrichtet) eine Broschüre, welche die Kenntnisse zusammenfasst, die im Laufe des Jahres zu erwerben sind. Untergliedert ist das Jahrespensum, wie oben beschrieben, in die Assignments. Die Broschüren sind die einzigen Unterlagen, die das Kind erhält. Fachliteratur steht im jeweiligen Laboratorium zur Verfügung.
Es ist dem Lernenden freigestellt, wie und mit welchem Zeitaufwand er die Assignments bewältigt; er arbeitet nach eigenem Rhythmus. Bedingung allerdings: Er darf nicht über das für einen Monat vorgesehene Lernpensum hinausgehen, wenn er die Pensen anderer Fachbereiche noch nicht bewältigt hat.
Das Pionierdasein als Lernsituation
Auslösendes Moment zur Entstehung des Daltonplans waren mit Sicherheit auch die persönlichen Schulerfahrungen der Helen Parkhurst. Diese waren alles andere als rosig. Parkhurst war 1886 in der damals neu gegründeten amerikanischen Kleinstadt Durand (Wisconsin) in ein Sammelsurium von irischen, schottischen und englischen Siedlern hineingeboren worden, die ganz und gar von pragmatischem Denken bestimmt waren, weil es ihnen
die Lebensumstände abverlangten. William H. Kilpatrick, einer der führenden Repräsentanten der amerikanischen „Progressiv Era“ beschrieb die Situation so: „Dort, wo man das Leben von Grund auf neu einrichten musste und kulturelle Überlieferungen wenig Hilfe boten, waren Selbständigkeit, Eigeninititiative und nachbarlicher Zusammenhalt ebenso wichtig wie praktische Erfahrung und Experimentierfreude. Selbstbestimmung und Unwilligkeit gegen Zwang verbanden sich mit einer demokratischen Grundeinstellung, mit weltanschaulicher und religiöser Toleranz und einer gewissen Skepsis gegen letzte Wahrheiten. Kein Prinzip ist absolut, ein jedes kann nur angewandt werden im Lichte aller anderen. Das Pionierdasein“, so Kilpatrick, „ist die idealtypische Lernsituation“.
Durch das falsche Ende des Fernrohrs betrachtet
Diese Pioniermentalität beeinflusste das Denken der Schülerin Helen Parkhurst. In der Schule hingegen erlebte sie das Gegenteil: Der Frontalunterricht war bestimmt von rigider Disziplinierung und durchsetzt mit ständigen Moralisierungen. In ihren Erinnerungen beklagt Parkhurst den Zwang zum Stillsitzen und eine schier unerträgliche Langeweile. Die traditionelle Pädagogik, sagt sie später, betrachte den Lernprozess durch das falsche Ende des Fernrohres, nämlich nur aus der Perspektive des Lehrenden.
Der Daltonplan – eine „Gegenschule“
Der Unterricht scheint das Mädchen völlig unterfordert und bei ihr beträchtliche Disziplinprobleme ausgelöst zu haben. „Der durchschnittliche Lehrer setzte die strenge Disziplinierung mit der erfolgreichen Wissensvermittlung gleich. Die motorische, affektive und geistige Aktivität des Kindes wurde vor allem als Faktor der Erziehungsbedürftigkeit, nicht aber als Grundlage der Erziehungsmöglichkeit betrachtet“, wird sie einst in ihrem Hauptwerk „Education on the Daltonplan“ schreiben. Parkhursts Erinnerungen an die Schulzeit lassen den Schluss zu, dass nicht die Schule, sondern die Welt außerhalb des Klassenzimmers der bestimmende Lernfaktor war. Während das Mädchen im Elternhaus viel Annahme und Geborgenheit erfährt und auch „draußen“ seine Lernaktivitäten entfalten kann, wird es in der Schule mit unerträglichen Zwängen und geistiger Oede konfrontiert. „So ist es nicht schwer“, schreibt Susanne Popp 2), „im Daltonplan Züge einer Gegenschule zu entdecken“.
Waterville
1904 wird Helen Parkhurst, zunächst ohne jegliche formale Ausbildung, Lehrkraft an der einklassigen Landschule in Waterville. Der Name des Ortes ist deshalb von Interesse, weil mit ihm ein entscheidendes Experiment verbunden ist. Aus eigener Erfahrung weiß die junge Lehrerin: Im herkömmlichen Frontalunterricht kann sie die Kinder nicht alle erreichen, dies umso weniger in einer Klasse mit den verschiedenen Alterstufen. Wie aber all die individuellen Gaben der Kinder aktivieren? Das vom Lehrplan geforderte Lernpensum sei nur in freier und selbständiger Arbeit zu bewältigen, meint sie und fackelt nicht lange. „Gleich zu Beginn des Schuljahres wurde das Klassenzimmer grundlegend verändert. Die auf Pult und Tafel ausgerichteten Bänke wurden gegen Tischgruppen ausgetauscht, die ‚Fachwinkel‘ bildeten, in denen die Schüler selbständig arbeiten konnten ... Wenngleich es noch einen Stundenplan gab, der die Schüler teilweise band, so durften sie sich doch im Klassenzimmer frei bewegen und nach Belieben mit Partnern oder Gruppen kooperieren“. So Susanne Popp 1) über das später immer wieder zitierte Waterville-Experiment.
Begegnung mit Maria Montessori
Ab 1905 wird Helen Parkhurst regulär zur Lehrerin ausgebildet; das auf vier Jahre angelegte Studium kann sie beträchtlich verkürzen. Bis 1913 ist sie als Grundschullehrerin tätig, dann wird sie – gerade mal 27 Jahre alt – Direktorin der grundschuldidaktischen Abteilung am „Central Teachers College“ in Wisconsin.
Kurz nach Amtsantritt läßt sie sich beurlauben, um nach Rom zu reisen. Dort nimmt sie an einem dreimonatigen Trainingskurs zur Montessori-Pädagogik teil, den die berühmte Dottoressa persönlich leitet.
Damit beginnt eine intensive Zusammenarbeit der beiden Reformpädagoginnen. Die Kooperation gipfelt darin, dass Helen Parkhurst zum „Supervisor of Montessori Teachers in USA“ avanciert. 1918 bereits löst sich Parkhurst von der Dottoressa, führt die Montessori-Demonstrationsschule unter eigenem Namen weiter und kann sich damit ungehindert der Arbeit am Laboratory-Plan widmen.
1920 erfolgt als entscheidender Schritt die Einführung dieses Plans an der Public-High-School, einer Sekundarschule in Dalton. So kommt es zu der weltweit bekannten Bezeichnung „Daltonplan“. Individuelles Lerntempo, bessere Leistungen vor allem schwächerer Schüler, verantwortungsvoller Umgang mit der verfügbaren Lernzeit, wachsendes Selbstvertrauen, mehr Eigeninitiative, ein verbessertes Lehrer-Schüler-Verhältnis sowie gesteigerte Bildungsinteressen der Schüler – mit diesen Empfehlungen macht die Public-High-School Schlagzeilen und erregt viel Aufmerksamkeit.
Internationale Anerkennung
Mehr und mehr verlegt sich Helen Parkhurst jetzt auch aufs Schreiben, publiziert ihre Erfahrungen und bringt 1922 schließlich ihr Hauptwerk „Education on the Daltonplan“ heraus. Das Buch stößt auf großes Interesse, mit ihm setzt die internationale Verbreitung der Daltonplan-Pädagogik ein. Bis 1942 ist Helen Parkhurst an der Dalton School New York tätig, wo eine modifizierte Form der Montessori-Pädagogik praktiziert wird. Dann zieht sie sich zurück aus der aktiven Schultätigkeit, widmet sich ganz der pädagogischen Forschung und tritt mit entsprechenden Themen, zuerst in Rundfunksendungen, später auch im Fernsehen an die Öffentlichkeit. Unter dem Titel „Exploring the Child’s World“ erscheint noch ein weiteres Buch. Parkhurst bereist die „alte Welt“, besucht England, Italien, Schweden, die Niederlande. Dort ist der Daltonplan bereits fest in das offizielle Schulsystem integriert; aus der Hand von Königin Juliane erhält sie einen hohen Orden.
Den Lebensabend verlebt sie in Starbridge/Connecticut. Zwei Manuskripte, eines über Maria Montessori und die Autobiographie, bleiben unvollendet. 1973, wie gesagt, stirbt Helen Parkhurst. Ursache ist ein schwerer Sturz.
In Deutschland wenig verbreitet
Daltonplanschulen gibt es heute insbesondere in den Niederlanden ebenso in England. In Deutschland fasste das Konzept weniger Fuß, was u. a. historisch begründet ist. Die Veröffentlichungen erschienen erst Mitte der zwanziger Jahre und konnten bis 1933 nicht entsprechend umgesetzt werden. „Education on the Daltonplan“ beispielsweise wurde in der Weimarer Zeit gar nicht ins Deutsche übersetzt; öffentlichkeitswirksame Experimente an Schulen waren in der kurzen Zeit bis zur Machtergreifung also nicht möglich.
Pro und Contra
Die Anhänger der Daltonplan-Pädagogik führen vielerlei positive Aspekte an; einzelne wurden bereits genannt. Sie – die Daltonplan-Pädagogik – eröffne ein hohes Maß an Selbsterziehung, mache den Umgang mit Lernmitteln und Nachschlagewerken selbstverständlich und überwinde entsprechende Hemmschwellen. Es entstehe eine positive Lernatmosphäre und den klassischen Ursachen für Disziplinlosigkeit im Unterricht – Langeweile und mangelnde Betroffenheit – werde entgegengewirkt. Der Schüler könne alles in der Schule erledigen, Hausaufgaben gibt es nicht.
„Der äußerlich sichtbare Vorteil“, so das Lexikon der Pädagogik, „ist eine beträchtliche Zeitersparnis. Bessere Schüler können in angemessener Zeit vorrücken und vor Jahresschluss das Pensum erledigen. In diesem Fall treten sie sofort in die höhere Klasse über. Weniger Begabte wiederholen die Klasse nicht; sie fahren mit ihrer Arbeit einfach dort fort, wo sie stehengeblieben sind.“
Auf der anderen Seite die Kritiker: Zu Taylorismus im Unterricht führe der Daltonplan, sagen sie, nach rein intellektualistischen Gesichtspunkten gehe er vor und lege das Hauptgewicht auf die Aneignung von Kenntnissen. Die daltonisierte Arbeitsweise mache einen Unterricht, der auf Interessen und Bedürfnissen gründe, unmöglich. Durch die vorgedruckten Assignments sei ein Eingehen auf aktuelle Entwicklungen nicht möglich, ferner beeinträchtige der Plan den Kontakt zwischen Lehrer und Schüler und gebe der schriftlichen Arbeit eine überdimensionierte Bedeutung.
Wie immer man die Dinge sieht: Für die berufliche Bildung ergeben sich in der Auseinandersetzung mit der Daltonplan-Pädagogik bermerkenswerte Aspekte, wenngleich zu bedenken ist, dass die Schüler nicht erst in der Ausbildung, in einem relativ hohen Alter also, damit konfrontiert werden sollten. Die Beschäftigung mit Helen Parkhurst und ihrer Gedankenwelt jedenfalls lohnt sich und deshalb verweisen wir nochmals auf die in der Fußnote genannten Werke. <
1) „Lexikon der Pädagogik“, Bern 1951
Literatur: 2) Popp Susanne, „Der Daltonplan in Theorie und Praxis, Heilbronn 1995
3) Eichelberger Harald, „Einführung in die Daltonplan-Pädagogik“, Innsbruck 2002.